Dienstag, 10. Juli 2018
Wendestimmung und -anzeichen
Es stimmt, die Parallelen zur untergehenden DDR sind nicht nur Interpretation durch Wiedererkennen des Gekannten, es gibt gar nicht so viele unterschiedliche Zustände und Ursachen, die zu derartigen Ähnlichkeiten führen könnten. Man liest in den Zeitungen die Lücken, man wendet sich gegen Sprachnormen, man misstraut dem herrschenden Milieu insgesamt, es gibt Demonstrationen und Erklärungen und Schikanen.
Aber, erstens: höchstens zur Hälfte. Die anderen fünfzig Prozent sind fügsam und naiv. Nun, auch das ist Wendesituation.
Aber zweitens: Die Anzeichen wie zur Wende treten auf, hingegen ist die politisch-gesellschaftliche Entwicklung gegenläufig. Es ist so, als bewegten wir uns vom Frühling 1990 zum Frühling 1989.
Schon werden Demonstrationen gewaltsam unterdrückt, Presse schreibt über „zentrale Figuren der neuen Szene“ im stalinistischen Jargon, die Überwachung wird aufs Private ausgedehnt, die kritischen Stimmen in der Presse sind nicht etwa Tauwetter, sondern Symptom der Gleichschließung. Bald wird es überhaupt keinen Sinn mehr haben, dagegen zu sein, man kann ja doch nichts machen.
Und man wird jede Vorstellung davon verlieren, was ein freiheitliches demokratisches System gewesen ist.
Die Enkel werden keine Fragen haben.

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