Dienstag, 20. Juli 2021
Thüringer Zustand
In dem unerträglichen Metapherngeschwafel kommt oft das verstecktgeglaubte Wesen unbewusst zum Vorschein, etwa wenn alles faschistisch ist, also das Nächstschlimmere zu einem selbst eben schon die Nazis sind. Im Grünsprech sagt auf cicero.de die Thüringer Grünen-Abgeordnete Madelaine ''Mad Elaine'' Henfling zur abgesagten Neuwahl: ''Wir mussten die Reißleine ziehen.'' Klar, für die frei fallenden Grünen ist es der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für Wahlen.

Noch etwas anderes.
Wir erinnern uns, Schröder hatte mittels Vertrauensfrage Neuwahlen bewirkt, auch Kohl hatte mit dem gleichen Mittel nach dem konstruktiven Misstrauensvotum, das ihn zum Kanzler machte, die Bestätigung durch Wahlen gewollt. Dafür ist das Instrument der Vertrauensfrage eigentlich nicht gedacht, aber beide Bundespräsidenten haben in ihrem Ermessen liegend den Bundestag aufgelöst.
Da hätte man bezogen auf Thüringen erwarten können, auch Ramelow würde auf diese Weise doch die Neuwahlen herbeiführen, um Reste von irgendwas zu erhalten.
So fragte die Jenaer Seniorenzeitung bei der Staatskanzlei nach der offiziellen Ausrede, warum der Herr Ministerpräsident nicht mittels Vertrauensfrage die Auflösung des Landtags und Neuwahlen nachreiche.
Wie sich zeigte, haben die eine verdammt gute, die bestmögliche sogar: Mit einer Vertrauensfrage des Ministerpräsidenten ''kommt man gemäß Thüringer Verfassung zu einer Neuwahl des Ministerpräsidenten, NICHT jedoch zur Neuwahl des Landtages.'' 
Was?
Tatsächlich.
In dem Verfassungsartikel mit der Vertrauensfrage steht nichts von Neuwahl. Genaugenommen nicht einmal von neuer Wahl des Ministerpräsidenten. Man könnte sie auch als gleichrangig mit schlechten Umfragewerten ansehen.

Die Frage wäre allein, und diese ist im Verfassungsrecht nicht formuliert und daher strittig, nur dass niemand den Streit bestreitet, was dann los sein soll und welchen Status ein Ministerpräsident nach verlorener Vertrauensfrage oder nach Rücktritt denn nun hat und mit welchem Verfahren der Nachfolger gewählt werden soll. Es steht in der Verfassung nur, er amtiert bis zum Amtsantritt seines Nachfolgers.
Aber als was? So wie ein Stellvertreter, bloß eben als dieselbe Person? Ist er lediglich faktisch vorhanden aber in der juristischen Fiktion, dass der Posten vakant sei?
Was davon abhängt, ist, ob der Nachfolger mit einfacher Mehrheit im dritten Wahlgang gewählt werden darf oder die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang braucht.
Nach herrschender Meinung, also Meinung der Herrschenden, der ihrer eigenen Rechtsmeinung zufolge Herrschenden, ist wieder der Artikel ''Wahl des Ministerpräsidenten'' dran, darum ist Ramelow Ministerpräsident. Das ist eine mögliche Auslegung des Wortlautes der Verfassung, etwas Gegenteiliges steht da nicht, so behandelt man die Verfassung wie eine hofinterne Verwaltungsvorschrift. Nicht das Problem des Parlaments, wenn der Regierungschef ausfällt. Der soll auch nicht dem Parlament Neuwahlen aufzwingen können. Kann man so sehen. Dafür spräche auch: Was sollten Rücktritt und Vertrauensfrage überhaupt für eine Funktion haben, wenn für die Wahl des Nachfolgers die absolute Mehrheit nötig sein soll, mit der der Landtag sowieso jederzeit einen anderen wählen könnte?
Andererseits könnte Ramelow die Vertrauensfrage stellen und sogleich, also im dritten Wahlgang, mit einfacher Mehrheit erneut gewählt werden, gegen ihn darf ja keiner antreten.
Die demokratisch gebotene Sicht sollte indes verlangen, dass die Angelegenheiten grundsätzlich beim Souverän liegen, der gefragt werden muss, wenn die Mandatsträger überfordert sind.

Thüringen sollte seine Verfassung an dieser Stelle präzisieren. Wir sehen aber, dass die Krise keine verfassungsrechtliche, sondern eine politische ist. Es hat niemand daran gedacht, dass es im Parlament Stimmen geben könnte, die mehr wert wären als andere, welche nicht mitstimmen dürfen. Ein Kandidat hat, so dachte man, eine Mehrheit, entweder die absolute oder die größere. Dass es nur einen Kandidaten gäbe, auf eine solche Idee kam man nicht.
Die Verfassung wäre nicht gebrochen, wenn im dritten Wahlgang der einzige Kandidat mit nur einer Stimme gewählt würde. Der Bruch der Demokratie wäre allein in den Gründen zu suchen, wieso nicht mindestens ein anderer ebenfalls für sich stimmte.

Jedenfalls ist Ramelow nicht mehr nur verfassungsrechtlich zweifelhaft im Amt, sondern nunmehr auch noch entgegen seiner eigenen politischen Zusage.
Was schwerer wiegt, kann er sich aussuchen.

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